Ralph Fischer
Unter dem Begriff des Ehrenamtes werden in Deutschland sehr unterschiedliche Formen des Engagements geführt. Während ein Großteil immer noch unbezahlt geschieht, gibt es einen Trend zur Monetarisierung des Ehrenamtes. Was bedeutet das für die innerkirchliche Engagement-Kultur und welche gesellschaftlichen Konsequenzen entstehen durch bezahlte ,Bürgerhelfer‘?
Verwässert Geld ehrenamtliches Engagement oder schafft es zusätzliche Reize der Beteiligung? Bevor man dieser Frage auf den Grund gehen kann, ist zunächst die Klärung notwendig, was Ehrenamt überhaupt bezeichnet und was nicht.
„Money makes the world go round.“ Dieser Satz aus dem Musical „Cabarett“1 wurde zu einem Mikrotext,2 einer Textgattung, in der kollektive, allgemein anerkannte Lebenserfahrungen einen kurzen, leicht fasslichen Ausdruck finden.3 Mikrotexte sagen etwas über die gesellschaftlichen Verhältnisse aus, die sie hervorgebracht haben. Im benannten Beispiel ist es die kollektive Erfahrung, dass nicht Recht, Glaube, Wahrheit et cetera die Welt regieren, sondern Geld. Diesem zum Funktionssystem „Ökonomie“ gehörenden Medium wird gegenüber den Medien anderer Funktionssysteme eine dominante gesellschaftliche Position zugeschrieben. Es liegt auf der Hand, dass das Medium Geld für alle Funktionssysteme der Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist, weil sie sich zur Erfüllung ihrer Aufgaben und Sicherung ihrer Existenz dem Mechanismus des „Regenerieren[s] von Zahlungen durch Zahlungen“4 unterwerfen müssen.
Angesichts der Frage nach einer Monetarisierung des Ehrenamtes, das in der öffentlichen Diskussion und seiner medialen Darstellung fast ausschließlich mit positiven Attributen versehen wird, drängt sich das moralisch aufgeladene und generalisierende Sprichwort „Geld verdirbt den Charakter“ auf. Aber wie will man den Charakter des kirchlichen Ehrenamtes erfassen, wenn noch nicht einmal seine Haupteigenschaften allgemeingültig definiert sind? Davon abgesehen liegt für die Darstellung und Bewertung von Geldeinsätzen im Ehrenamt sowie deren Effekte auf das Ehrenamt kein belastbares Wissen vor, was nicht zuletzt darin begründet ist, dass Geldeinsätze bei als ehrenamtlich deklarierten Tätigkeiten terminologisch diffus und semantisch ungeklärt verwendet werden.5
Forschungslücken und ungeklärte Begrifflichkeiten sind jedoch selten dem Zufall geschuldet, sondern markieren häufig Interessenlagen. Daher ist es trotz unsicheren empirischen Terrains geboten, mithilfe des vorhandenen Wissens zu diskutieren, welche Effekte das in unserer Gesellschaft ubiquitäre Medium Geld mit seinem Mechanismus des „Regenerieren[s] von Zahlungen durch Zahlungen“ auf das Ehrenamt hat. Korrumpiert es das Ehrenamt? Oder kommt ihm eine generierende und vitalisierende Qualität zu? Zunächst muss allerdings geklärt werden, was das Ehrenamt überhaupt ist. In Anbetracht einer überaus reichen Forschungs- und Literaturlandschaft mag diese Frage unsinnig erscheinen. Doch sie ist es mitnichten, weil die Bezeichnungen Ehrenamt, Freiwilligenengagement, bürgerschaftliches Engagement und Freiwilligenarbeit im politischen Raum sowie in der Öffentlichkeit nicht selten synonym verwendet werden. Auch wenn sie sich auf gemeinwohlorientierte Tätigkeiten jenseits der Erwerbsarbeit beziehen lassen, entspringt jeder dieser Begriffe je eigenen Konzepten und enthält dementsprechend unterschiedliche Konnotationen. Eine definitorische Klärung ist daher unerlässlich.
Für die Bestimmung des Begriffs Ehrenamt sind zwei historische Beispiele instruktiv: Die Hamburger Armenordnung und die preußische Städteordnung. Welche gesellschaftliche Funktion hatte das Ehrenamt hier und wie wurde es definiert?
Die sich im Gefolge der Reformation ausbildenden Hamburger Kollegien zur Verwaltung der Gotteskästen6 gehören zu den ältesten „bürgerschaftlichen Assoziationen“ Deutschlands, und die dort vorfindliche Engagementpraxis weist Kennzeichen auf, die sich bis heute im Ehrenamt feststellen lassen: Sie war gemeinwohlorientiert, nicht auf materiellen Gewinn gerichtet, vollzog sich im öffentlichen Raum und wurde gemeinschaftlich ausgeübt. Alles Merkmale, welche 2002 von der Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ als Kriterien für ein bürgerschaftliches/ehrenamtliches Engagement benannt wurden.7 In einem Punkt unterschied sich die Verwaltung der Gotteskästen jedoch vom heutigen Begriff des Ehrenamtes: Sie war nicht freiwillig, denn es bestand jeweils ein Dienstzwang, der Bürger war nicht frei, es zu tun oder zu lassen.8
Das Jahr 1808 gilt wegen der preußischen Städteordnung als „die Geburtsstunde des bürgerlichen Ehrenamts“.9 Mit dieser Ordnung verpflichtete der preußische König die Bürger qua Gesetz zur „thätige[n] Einwirkung auf die Verwaltung des Gemeinwesens“.10 Aus den mit ihr an die Bürgerschaft adressierten Selbstgestaltungspflichten resultierten weitreichende (kommunale) Selbstgestaltungsrechte.11
Im Kontext der in diesem Dossier zu diskutierenden Frage sind insbesondere die Bestimmungen der preußischen Städteordnung hinsichtlich der Frage nach Kostenersatz und geldlicher Honorierung aufschlussreich. So besagt deren § 114 in Bezug auf die Stadtverordneten: „[…] Sporteln und Immunitäten jeder Art sind unzulässig. Nur baare Auslagen dürfen erstattet werden.“12 Geschenke (Sporteln), Abgabefreiheiten oder Bevorrechtigungen (Immunitäten) waren ebenso gesetzwidrig wie Geldzahlungen, die über tatsächlich geleistete Geldauslagen hinausgingen.
Ist in der Hamburger Armenpflege die Honorierung des unbezahlten Engagements der Bürger noch dergestalt, dass sie „reichliche Belohnung vor Gott dem Allmächtigen […] [zu] gewarten“13 haben, ist dieses religiöse und jenseitsorientierte Moment in der preußischen Städteordnung nicht enthalten. In ihr ist das religiöse Movens durch die gleichsam chthonischen Gratifikationen „Reputation und Statusgewinn“ substituiert. Denn nach § 114 der preußischen Städteordnung ist die Wahl zum Stadtverordneten eine Ehrbezeugung der Bürgerschaft, weshalb der Gewählte „unter seinen Mitbürgern auf eine vorzügliche öffentliche Achtung Anspruch [hat].“14
Gotteslohn und Ehre sind in den skizzierten historischen Beispielen die Gratifikationen des Ehrenamtes, materieller Gewinn ist beiden Engagementkonzeptionen wesensfremd. Vielmehr dürfte vor dem Hintergrund des Selbstverständnisses und Ethos der Bürgerschaft des 16. und 19. Jahrhunderts eine offene und nachweisliche Gewinnerzielungsabsicht im Engagement gegebenenfalls erzielte symbolische und soziale Bonifikationen nicht nur zunichtegemacht, sondern zudem in einen Malus verwandelt haben.
Was heute in welchem Fall als ehrenamtlich bezeichnet wird, ist höchst unterschiedlich, weshalb der Begriff politisch beliebig mit Inhalt gefüllt werden kann.
In einer 1989 erschienen Handreichung wird für das Ehrenamt in einem kurzen geschichtlichen Rekurs festgestellt, dass es sich stets „um eine Arbeit oder Aufgabe handelte, die
für die Gesellschaft getan wurde.“15 2002 benennt die Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ in ihrem Bericht wiederum folgende Kriterien:
Trotz der Unterschiede zwischen den Indices sind Freiwilligkeit und Nicht-Bezahlung17 die jeweils erstbenannten Kennzeichen, denen damit eine hohe diagnostische Qualität zur Bestimmung eines ehrenamtlichen Engagements zugemessen wird. Allerdings konstatieren Corsa und Neubauer bereits 1995: „Ehrenamtliches Engagement ist oft nicht mehr unbezahlt […] zu haben.“18 Und auch das ein Jahr später erschienene Wörterbuch Soziale Arbeit verweist darauf, dass das Ehrenamt „zwar nicht zum Zwecke der Erzielung eines Erwerbseinkommens ausgeübt [wird], […] aber […] gelegentlich auch mit stundenweisen Vergütungen verbunden [ist].“19 Davon unbeschadet wird in den Freiwilligensurveys 1999, 2004 und 2009 das ehrenamtliche Engagement stets gleichlautend als „freiwillig übernommene Aufgaben und Arbeiten, die man unbezahlt oder gegen geringe Aufwandsentschädigung ausübt“,20 definiert. Da ein Aufwendungsersatz keine Vergütung ist, kollidiert dieser nicht mit dem Kriterium „unbezahlt“, woraus man schließen kann, dass dort, wo sich Honorare, Pauschalen oder Stundensätze finden lassen, weder ein Ehrenamt noch ein bürgerschaftliches Engagement oder ein Freiwilligenengagement vorliegt. Dieses sieht der Staat aber offenkundig anders, denn er hat, wie Beyer feststellen muss, „in den letzten Jahren sehr bewusst monetäre Engagementanreize bedient.“21 Dieses geschah insbesondere mit Hilfe der Bestimmung steuerbefreiter nebenberuflicher Tätigkeiten durch das Einkommensteuergesetz22 oder den Ausführungen des SGB XI § 45 c zu (angemessenen!) Aufwandsentschädigungen für ehrenamtlich Engagierte.23 Angesichts eines staatlicherseits offenkundig utilitären Umgangs mit dem Ehrenamt kann es erfreuen, dass das BGB in §§ 31 a den Begriff „Vergütung“ offen verwendet. Vor dem Hintergrund des skizzierten Sachverhalts ist festzustellen, dass das Wort Ehrenamt zu einem Containerbegriff transformiert wurde, der je nach Interessenlage von Politik und Staat gedehnt oder gefüllt werden kann. Dieser Umstand mag erklären, warum es in Deutschland keine Legaldefintion des Ehrenamtes gibt.
Das österreichische Bundesgesetz zur Förderung von freiwilligem Engagement ist hingegen beispielgebend, denn dieses definiert in Abs. 1, § 2 das Ehrenamt als unbezahlte Tätigkeit!25 Für andere gemeinwohlorientierte Tätigkeiten sind somit auch andere Begrifflichkeiten zu verwenden. Für Deutschland sind demgegenüber eine terminologische Diffusion und daraus folgend eine qualitative Erosion des Ehrenamtes zu diagnostizieren, die das Aufkommen eines Hybrids befördern, der nicht existenzsichernde Erwerbstätigkeit ist und nicht unentgeltliches Engagement. Hybride ist die Gefahr eigen, dass sie neben den intentionalen immer auch unerwünschte funktionale Effekte aufweisen.
Ist das Ehrenamt, neben dem Recht, der Wirtschaft oder der Religion, vielleicht ein eigenes gesellschaftliches Teilsystem, mit eigenen Gesetzen und Handlungslogiken? Was haben Ehrenamtliche davon, ehrenamtlich tätig zu sein, und was würde Geld aus dieser Motivation machen?
Es ist aufschlussreich, dass der Begriff Monetarisierung nicht allein das lateinische monetarius für Geld enthält, sondern auch den der römischen Göttin Juno gegebenen Beinamen Moneta: Warnerin. Folgt man dem Soziologen Niklas Luhmann, dann ist Geld das Medium der Ökonomie, ebenso wie das Recht das Medium der Justiz ist oder der Glaube das der Religion. Das System der Ökonomie operiert in allen seinen Handlungen nach der Leitdifferenz „Zahlen/Nichtzahlen“ und verwendet dabei das Medium „Geld“. Nach Luhmann arbeitet jedes Funktionssystem mit seinem eigenen Medium und seiner eigenen Leitdifferenz, sobald diese aber in ein anderes eindringen und das originäre Medium sowie die originäre Leitdifferenz verdrängen, wird das betroffene System korrumpiert oder sogar zerstört. Das bedeutet nicht, dass ein Funktionssystem nicht das Medium eines anderen in Anspruch nehmen kann – selbstverständlich soll das Medium „Recht“ genutzt werden, damit wirtschaftliche Transaktionen rechtskonform verlaufen. Doch wenn Geld bestimmt, was Recht ist, wird das Funktionssystem Justiz okkupiert. Daher braucht es die Moneta, die gegebenenfalls vor dem Missbrauch des monetarius warnt.
Geld „ermöglicht Standardisierungen, die von individuellen Präferenzen abstrahieren“,26 das macht es zu einem leistungsfähigen funktionalen Äquivalent. Doch die Vergeldlichung mancher Phänomene (Liebe, Glaube und anderes mehr) stellt eine gesellschaftliche Bedrohung dar, weil sie das „Regenerieren von Zahlungen durch Zahlungen“ in intimste Lebensvollzüge eindringen lässt und deren spezifische Logik vernichtet.27 Luhmann konstatiert, dass es „mit dem Pathos des Helfens […] vorbei [ist]. Man kann es tun oder man kann es lassen […] Die Gesellschaft konzediert, auch normativ, die Freiheit des individuellen Entschlusses. Und darin liegen Bedingungen […] der Freiwilligkeit des helfenden Handelns […]“28 Das Pathos der Vormoderne durch Geldzahlungen zu substituieren, konterkariert die Freiheit der Entscheidung, mithin bewirken Geldzahlungen zwar Engagement, aber kein Ehrenamt. Vor diesem Hintergrund sind Überlegungen von Brauer hilfreich, der dafür plädiert, das Ehrenamt von den Leitdifferenzen und Medien der bisher definierten Funktionssysteme zu trennen, als „eigenständige Größe zu isolieren“29 und sein eigenes Medium aufzuspüren. Das von ihm identifizierte Medium ist Prestige und die von ihm festgestellte Leitdifferenz ist Prestige/Nicht-Prestige.30 Der Erwerb von Ansehen und Status vollzieht sich zwar auch in anderen Funktionssystemen, doch nirgends in einer von anderen Interessen wie Geld oder Macht so distanzierten Form,31 daher besitzt das Ehrenamt eine spezifische gesellschaftliche Funktion.32 Mit einem eigenen Medium ausgestattet „bedarf [das Ehrenamt] keiner traditionalen Kontextualisierung [mehr], [es] löst sich von liebevoller Zuneigung, billiger Lohnarbeit, blinder Folgsamkeit und unreflektierter Verbandstreue. Solche […] Elemente […] gehorchen […] den Strukturprinzipien anderer Systeme […] oder verstoßen gegen das Freiwilligkeitsgebot […]“33 Dieses Gebot ist „keine moralische Frage oder eine ideologische Setzung, sondern systemkonstitutiv“.34 Wenn „Ehrenamtlichen“ die aufgewendete Zeit oder vertraglich definierte Leistungen geldlich vergütet werden, findet eine Entlohnung statt, was eine Metamorphose des Ehrenamtes in eine Marktgesetzen unterworfene Tätigkeit bewirkt. Für das Ehrenamt resultieren daraus programmierende und programmierte Entscheidungen,35 die nicht seiner systemeigenen Logik, sondern der der Ökonomie entsprechen.
Nicht nur die Anzahl der Freiwilligen steigt in Deutschland, auch die Anzahl derer, die für ihre „ehrenamtliche“ Tätigkeit entlohnt werden, ist gestiegen. Nicht selten entspricht diese Form der Monetarisierung den Interessen von Politik und Trägerorganisationen.
Wer engagiert sich überhaupt ehrenamtlich gegen Entgelt? Die Beantwortung dieser Frage ist schwierig, weil in den Fragebögen der Freiwilligensurveys36 die verschiedenen Kategorien monetärer Gratifikation und Kompensation nicht definiert sind; die Angaben der Interviewten stellen daher subjektive Deutungen dar. Hinzu kommt, dass die Begriffe „Honorar“, „geringfügige Bezahlung“ und „Aufwandsentschädigung“, wie Klie, Stemmer und Wegner festgestellt haben „in unterschiedlichen Organisationen unterschiedliche Sachverhalte bezeichnen. So gilt z. B. die Zahlung geringer Stundensätze von 2 bis 4 Euro mal als Honorar und mal als Aufwandsentschädigung.“37 Unbeschadet von diesen Messproblemen ist zwischen 1999 und 2009 der Anteil der Ehrenamtlichen, die für ihr Engagement Geld38 oder geldwerte Leistungen39 erhalten, von 18 Prozent auf 23 Prozent gestiegen.40 Von den 23 Millionen ehrenamtlich Engagierten sind also 5,3 Millionen Empfänger von Geld- oder Sachzuwendungen. Auffällig ist die Zunahme bei den beiden Erwerbsstatusgruppen Schüler, Studierende, Auszubildende und Arbeitslose.41 Während Erwerbstätige im Ehrenamt eine „Vergütungsquote“ von 22 Prozent aufweisen, liegt diese bei Schülern etc. bei 42 Prozent und bei Arbeitslosen bei 30 Prozent.42 Die Zahlen des Freiwilligensurveys 2009 zeigen, dass eine Monetarisierung des Ehrenamtes nicht zu leugnen ist. Das Ehrenamt gegen finanzielle oder materielle Honorierung ist keine exotische Ausnahme. Allerdings gibt es „Hotspots“ dieses Phänomens, denn es „scheint sich eine schleichende Monetarisierung in Bereichen wie Pflege/Gesundheit oder Sport und Kultur abzuspielen. [So] […] ist es [dort] üblich geworden, die Übungsleiterpauschale mit einem Minijob zu kombinieren, was dem ‚Engagierten‘ 650 Euro einbringt (200 Euro Übungsleiterpauschale + 450 Euro).“43 Doch auch für den Bereich Soziales werden Geldzahlungen zunehmend selbstverständlicher.44 An dieser Stelle sind die Befunde des Freiwilligensurveys 2009 von Relevanz, in denen 32 Prozent der Ehrenamtlichen im Bereich Soziales angeben, dass ihr Engagement einen Zusammenhang mit ihrem jetzigen oder früheren Beruf aufweist, 30 Prozent Interesse an einer bezahlten Tätigkeit haben, und 18 Prozent angeben, dass ihre Tätigkeit zuvor von einem Hauptamtlichen ausgeübt wurde; im Bereich der Gesundheit liegen die entsprechenden Werte bei 39 Prozent, 37 Prozent und 17 Prozent.45 Gerade in Arbeitsfeldern, die sich durch eine schwierige Arbeit, eher niedrige Löhne, einen hohen Anteil an Gering- und Teilzeitbeschäftigten sowie einen geringen gesellschaftlichen Status auszeichnen, scheinen Arbeitgeber ihre Personal- und Kostenprobleme mit (beruflich qualifizierten) Ehrenamtlichen zu lösen. Unbeschadet davon gilt es festzuhalten, dass das Motiv, eine monetäre Gratifikation zu erhalten, bei Ehrenamtlichen die niedrigsten Zustimmungswerte hat und sich in einem Ranking von 24 Motiv-Faktoren auf Rang 24 wiederfindet.46 So erfährt das Gefühl, etwas bewegen zu können, Zustimmungswerte von 88 Prozent, dass man gebraucht wird 85 Prozent, dass es Freude macht 98 Prozent, dass man etwas dafür bekommt 17 Prozent!47 Der Prozess der Monetarisierung hat seinen Ursprung demnach vielmehr in den Interessen der Politik und der Trägerorganisationen, die Geld, Vergünstigungen und Sachleistungen als Steuerungsinstrumente einsetzen, um Versorgung zu sichern, (Personal-)Kosten zu senken sowie ehrenamtliches Engagement zu ihrem Nutzen zu selektieren und zu kanalisieren.48
Immer mehr erwerbstätige Menschen in Deutschland haben mit ihrem Einkommen kein Auskommen. Liegen hier ungenutzte Ressourcen ehrenamtlicher Arbeit oder muss man umgekehrt Sorge tragen, dass nicht unter dem Deckmantel des Ehrenamtes neue Ausbeutungsverhältnisse entstehen?
Dort, wo sich der Staat der Erfüllung seiner Aufgaben verweigert und auch der Markt versagt, wird zur Bewältigung öffentlicher Aufgaben die Prekariatsreserve entdeckt. Diese umfasst die Bevölkerungsgruppe, „die weder in dauerhafter Armut noch in gesichertem Wohlstand leb[t]“,49 „die Gefahr laufen, in die Armut und die damit verbundene soziale Ausgrenzung abzugleiten“.50 Dieser Bereich der Gesellschaft wird als Zone der Vulnerabilität bezeichnet. Rund ein Viertel der Bevölkerung lebt in ihr,51 aber nur weniger als die Hälfte in der Zone der Sicherheit.52 Bourdieus Diktum von der Allgegenwärtigkeit der Prekarität53 lässt sich nicht widerlegen. In Deutschland existiert ein Heer von erwerbstätigen Menschen, die mit ihrem Einkommen kein Auskommen haben können, und es sind nicht nur die im Niedriglohnbereich anzutreffenden Reinigungskräfte, Paketzusteller oder Friseurinnen. Auch klassische Handlungsfelder der ehrenamtlichen Arbeit fallen unter die Rubrik Niedriglohnsektor und Minijobbiotop. In der Primarpädagogik sind von den rund 500.000 Mitarbeitenden 300.000 Teilzeitbeschäftigte oder sogenannte Minijobber. In der Krankenpflege liegt die Relation bei 420.000 zu 200.000 und in der Altenpflege bei 900.000 zu 600.000.54 Allein in den Bereichen Kindererziehung sowie Kranken- und Altenpflege finden wir über 1.000.000 Menschen mit einem prekären Einkommen. In Deutschland haben fast 5.000.000 Menschen lediglich einen Minijob, und fast 3.000.000 üben einen Minijob nebenberuflich aus.55 Das durchschnittliche Monatsbruttogehalt von 3.527 Euro wird von rund zwei Drittel der Erwerbstätigen nicht erzielt,56 und in manchen Wirtschaftsbereichen liegt das durchschnittliche Monatsbruttoeinkommen unter 1.800 Euro.57 Selbst 25 Prozent der Selbständigen gehören mit einem Bruttostundenverdienst von unter 8,50 Euro zum Prekariat.58
Angesichts dieser Situation entdeckt Dörner einen neuen Typus des Ehrenamtlichen: „Im Unterschied zu den ehrenamtlichen Helfern bisherigen Typs haben die neuen Bürgerhelfer […] neben einem Zuviel an freier Zeit zugleich ein zu geringes Einkommen. Sie bilden den neuen Bürgertyp des sozialen Zuverdieners oder des Semiprofessionellen; sie geben nicht nur Zeit, sondern nehmen auch Geld.“59
In der Tat gibt es ein beträchtliches Reservoir für potenzielle Bürgerhelfer oder soziale Zuverdiener. Denn Menschen, die in einer prekären ökonomischen Situation leben müssen, sind in der Regel (zu Recht!) daran interessiert, diese zu überwinden. Und für sie ist ein legaler, steuerfreier Zuverdienst in Höhe von 650 Euro so attraktiv, dass von ihnen wohl kaum jemand danach fragt, ob das nun ein Job oder ein Ehrenamt oder die unselige Kombination von beidem ist, mit der zusätzliches Geld verdient werden kann. Es stellt sich die drängende und nicht im Ansatz polemische Frage, ob mithilfe des Ehrenamtes ein modernes Subproletariat geschaffen wird. Bourdieu unterstellt, dass das „Prekarität Teil einer neuartigen Herrschaftsform […] [ist], die auf der Errichtung einer zum allgemeinen Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fußt […]“60 Ob dieses zutreffend ist, muss sich noch erweisen. Das Faktum, dass angesichts der ökonomischen Situation eines Viertels der Erwerbstätigen (aber auch der Rentner) im bezahlten Ehrenamt Ausbeutungsverhältnisse wirksam werden können, ist hingegen offensichtlich. Befristete Stellen, Teilzeitstellen, Minijobs und Geldzahlungen an „Ehrenamtliche“ greifen zunehmend auch in Kirchengemeinden, kirchlichen Einrichtungen und Werken der Diakonie um sich. Nichts davon ist per se moralisch verwerflich. Aber wenn Kirche glaubwürdig bleiben möchte, muss sie sicherstellen, dass Ausbeutungsverhältnisse, egal wie sie sprachlich maskiert oder realitätsfatalistisch („es ist so, wie es ist“) legitimiert werden, keinen Raum finden. Das sind wir dem Herrn der Kirche und den Menschen, die ihr Vertrauen in Kirche und Diakonie setzen, schuldig.
Wie wurde das Thema während der 13 Monate diskutiert? Hier können Sie die gesammelten Thesen zum Dossier nachlesen und die Rezeption nachverfolgen.